belledejour
 

 

Wegen völliger Unentschlossenheit bzgl. der Silvesterplanung, einfach mal alte Freunde angerufen, was die so machen, dabei M. erwischt, mit der ich seit etlichen Monaten nicht mehr gesprochen habe, was auch daran lag, dass ich dachte, sie sei mit ihrem Freund, einem Menschen vom Theater, auf Tingeltangel über Österreichs Bühnen. Stimmte aber nicht. Ihr nicht eben psychisch stabiler Freund hatte es im Frühjahr vorgezogen, sich zu besaufen und tot zu fahren, irgendwo, auf einer gottverdammten Landstraße in Oberösterreich. Die beiden waren Jahre zusammen, quasi zusammen gewachsen, und haben sich abgöttisch geliebt. Er war der kreative Teil, sie diejenige, die darauf geachtet hat, dass nichts in seinem Weg liegt. Er hat sie auf Händen getragen und mindestens einmal am Tag hat er ihr Gesicht in seine Hände genommen und ihr gesagt, dass er sie lieben würde. Sie hat ihn ins Bett gebracht, wenn er besoffen war, sie hat seine Sachen Korrektur gelesen, ihm geholfen wenn er in einer Sackgasse steckte. Sie wußte was zu tun war, wenn es ihm dreckig ging, er wußte was sie glücklich macht. Sie waren zwei verlorene Puzzelstückchen. Perfektes Paar. Und dann - zack - ist er tot.
M. ist wochenlang wie paralysiert durch die Welt gelaufen. Sie hat sich in dem Kaff in dem der Unfall passiert, eine Wohnung gemietet, damit sie jeden Tag zu der Stelle gehen konnte, an der er gestorben ist. Weil sie es begreifen wollte, weil sie hoffte, dass sie dort eine Antwort bekommt. Ein Zeichen vielleicht. Sie hat sich hoffnungslos überschuldet in dieser Zeit, ein Freund hat ihr dann geholfen, die Wohnung in Berlin gehalten, in die sich M. nicht mehr reingetraut hat, weil da ja noch alles vom ihm war. Sie hatte den Boden unter den Füßen verloren. Die Menschen im Kaff haben sie in Ruhe gelassen. Wahrscheinlich, weil sie die "komische" war, die Frau, die nicht loslassen kann. Nur der Pfarrer hat sie ab und zu besucht, was M. nicht wollte, aber es war am Ende doch gut, vielleicht weil die immer wiederkehrenden Sprüche vom Paradies, vom Himmel, zusammen mit den längst verschütteten kindlichen Glauben ein Netz gewoben haben, das ihren Fall gebremst hat. Irgendwann mußte sie wieder weg da. Weil das Geld aus war, weil die Berge ihr aufs Hirn drückten, weil kein Zeichen kam. Jetzt ist sie wieder hier, atemlos, leidenschaftslos. Sie hat dann von den Momenten erzählt, wie es war, als sie nach Monaten wieder in die Wohnung kam, als sie im Schrank an seinen Sachen gerochen hat, die Nase ganz tief in den Stoff gedrückt, wie sie an seinen abgekauten Bleistiften geschnüffelt hat, rein gebissen sogar, weil sie hoffte ihn schmecken zu können, wie seine Haare aus dem Abfluß gezogen hat, und nie hat sie geweint, sondern alles mit einer verbissenen Entschlossenheit betrieben, weil sie hoffte, sie können einen Teil wieder finden, für einen Moment die Augen schließen und er ist wieder da. Sogar nach alten Kondomen hat sie gesucht, unterm Bett, aber da war nix, sie ist ja reinlich. Nur die Fesseln und das andere Spielzeug lag da. Sie hat es zusammen gepackt und in den Keller gebracht. In einer Plastiktüte, in einen Topf, in einen Schrank. Am liebsten hätte sie es verbrannt, aber das hat sie sich nicht getraut. Fast drei Tage war sie, nach eigener Aussage, dem Wahnsinn näher als irgendwas anderes. Sie hat jeden Millimeter der Wohnung abgesucht, nach Hinweisen, nach einem Stück von ihm. Sie hat auf dem Sofa geschlafen, oder am Esstisch, aber nicht im Bett, das ging nicht. Ich hab sie Silvester zu mir eingeladen, weil sie sonst in der Wohnung alleine gesessen hätte, und wir haben auf dem Sofa gelegen und sie hat mir das alles erzählt und ich hab zu gehört. Wir haben ein bißchen Sekt getrunken und sind dann später auf die Strasse, zu den Irren mit ihren Bomben und Böllern und Raketen, und uns beiden war es zu laut und zu hektisch. Dann doch lieber mehr Sekt bei mir, und wir haben geredet und als sie fertig war, ist sie auf meinem Sofa eingeschlafen, einfach so, der Akku war leer. Ich hab sie zugedeckt, ihr ein Kissen unter den Kopf geschoben und noch ganz lang im Bett gesessen.

Freitag, 2. Januar 2004, 15:43, von anne | |comment

 
Menschliche Grö0e.

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So etwas ist furchtbar,
aber sie wird darüber hinwegkommen. Die Wunde wird kleiner werden, wahrscheinlich nicht ganz heilen, aber sie wird kleiner werden. Schön wenn man in dieser Zeit jemanden hat, dem man sich anvertrauen kann, der einen Moment für einen da ist, einfach nur da ist.

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Der Umstand, dass etwas mit der Zeit »besser« wird, dass man »darüber hinwegkommt« ist nicht nur Hoffnung, denn bei aller Lust zu Leben: Die Angst vor dem Vergessen ist die Angst vor einem zweiten Tod.

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Und in die Wut und das Mitgefühl mischt sich der Gedanke: Auch wenn sie ihn verloren hat, gab es den Richtigen für sie.

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Interessanter Gedanke
... ob's dadurch leichter oder schwerer wird ... ?

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Groteske
wie blöd muss ein Mensch sein um an den Ort des
Geschehens zu reisen ja fast sich niederzulassen,
kein Fragezeichen nur eine Meinung: sehr blöd!
Sülze im Kopf mit Senf, extra stark.
Tut gut zu Leiden, so gut Nerven zu sägen die Nerven
anderer und sind wir nicht alle ein wenig
Mutter Theresa?

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Mit Verlaub,
jeder auf seine Weise. Der eine so, der andere anders - oder so....

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@ sia mia

Ich kann die Sehnsucht nach Nähe zum Ort des Geschehens sehr wohl nachvollziehen. Manchmal muss man sich dem Schmerz stellen, um überhaupt noch etwas fühlen zu können, der Schmerz als letzte Verbindung zu sich und dem Toten, kaum zu ertragen der Gedanke an eine Linderung, die ja auch Vollendung des Verlustes ist.

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Sehe ich genauso wie etcpp. Ich habe jemanden verloren, der zurzeit seines Todes auf der anderen Seite des Ozeans war, und es hat lange gedauert, bis ich in meinem Alltag überhaupt klar gekriegt habe, dass er nie mehr anrufen wird, mir nie wieder eine E-Mail schreibt und eben einfach nie wieder auf meiner Seite des Ozeans sein wird.

Ich war bis heute noch nicht an seinem Grab in Amerika (sein Todestag hat sich gerade zum vierten Mal gejährt), aber wenn ich wieder rüberfliege, ist es das erste, was ich tun werde. Denn erst dann kann ich wirklich undd endgültig Abschied nehmen.

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abschied
und diese tage, die nie vergehen wollen. alles ist er. nur - ist er nicht da. jede kleine geste, die er gemacht hat, die verstummt ist für immer. nicht einen kleinen augenblick mehr wird sie zurück kommen. nur einen kleinen augenblick! bitte! nur einen! aber - nichts! es ist nur stille. als wäre er gerade nur zigaretten holen gegangen. er hat seine jacke hängen gelassen. hätte er nicht, wäre er nicht, er müsste nur noch, er wird nie mehr - es will nicht in meinen kopf. und diese notizen. immer machte er sich kurze notizen über alles und zu jeder zeit. immer auf kleinen papierfetzen. nun sind sie da, die papierfetzen mit seinen notizen - überall sind sie. seine gedanken. nur kurz gedacht, dann niedergeschrieben, damit der kopf frei ist. aber er ist gefangen, mein kopf! in seinen gedanken. in den niedergeschriebenen. auf papierfetzen, wie er es immer getan hatte. nur so dahingeschrieben und dann liegengelassen, wie er es immer getan hatte. vergessen. aber ich kann nicht vergessen. ich kann es nicht. ich will es nicht. nur den kopf endlich frei haben für das leben. ich will leben. das ist doch kein leben so in seinen gedanken. in seinem leben, in seinem tod. der er war. wieso hast du nicht aufgepasst. hast du nicht an mich gedacht? jetzt sitze ich hier. gefangen in deinen lieben gedanken. rieche dich immer wieder, als wärest du nur gerade kurz fortgegangen - nur gerade kurz fortgegangen. du hättest es nicht tun dürfen. hättest an mich denken sollen. so hast du mich zurückgelassen mitten in deinen dingen, die überall sind - den gedanken. überall bist du. aber ich kann dich nicht finden - dich nie mehr finden. nie mehr!

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Stille, nie endenwollende Bewunderung.
Danke.

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Ich habe dich, so arrogant ich bin,
völlig unterschätzt. Gerade, als ich dachte, dass belledejour mich langweilt, da bekomme ich diese Nichtfickgeschichte.
Nicht schlecht.

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Das ist...
...bitter. Mir tut jeder Leid, der so schlecht mit solchen Schlägen umgehen kann.

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